Biografie

Vorab:

Die offizielle Fassung der Biografie finden Sie auf Gavrilovs Seite https://www.andreigavrilov.com/biography

Auch auf Wikipedia findet sich mittlerweile in vielen Sprachen eine gute Fassung.

 

Ich versuche hier einen etwas unterhaltsameren Ansatz, der z.B. auch im Schulkontext einsetzbar sein könnte.

Andrei Gavrilov, geboren am 21.09.1955 in Moskau, saß bereits mit wenigen Jahren am Klavier.

Genaugenommen aber zunächst mit einer Geige auf der Schulter. Sehr früh erkannte Andrei’s Mutter, selbst eine sehr anerkannte Klavierlehrerin, jedoch, dass das Klavier-Talent nicht Gavrilovs großer Bruder, sondern Andrei Begabung mit brachte.

So bekam er seine ersten Jahre Unterricht auch von seiner strengen Mutter.

Im Alter von ca. 5 oder 6 kam es zu einem dramatischen Vorfall: Andrei spielte mit einem Freund, der plötzlich ein Messer zog. Dabei wollte er Andrei gar nicht verletzen, aber Andrei griff mit der rechten Hand nach der Klinge, und im Reflex zog sein Freund das Messer wieder zurück. Die Folge war eine extrem starke Verletzung an mehreren Fingern der noch jungen Hand.

Glücklicherweise konnten die damals hervorragenden Ärzte die Finger wieder gekonnt annähen.

Als Andrei jedoch zurück vom Krankenhaus war hoffte er darauf, wegen seiner Verletzung nicht Klavier üben zu müssen. Die ehrgeizige und strenge Mutter meinte jedoch: „Übe mit Links!!!“

Wer weiß, vielleicht hat diese Phase dazu beigetragen, dass auch heute Gavrilovs Hände völlig ausgewogen eine perfekte Technik zeigen. Es ist z.B. auch ein besonderer Genuss, Gavrilovs Aufnahme von Ravels Klavierkonzert für die linke Hand zu hören, oder einem Prelude von Alexander Skriabin für die linke Hand zu lauschen.

Die nächsten 11 Jahre waren geprägt von Unterricht von seiner Mutter (selbst eine bedeutende Schülerin von  Heinrich Neuhaus). Bereits 1973 absolvierte Gavrilov an der weltberühmten „Zentralen, staatlichen Musikhochschule in Moskau. Dabei absolvierte er mit Bravour bei der damals berühmten Prof. Tatjana Kestner. 

Darauffolgend wurde er zugelassen zum weltweit anerkannten Moskauer Musikkonservatorium. Hier war v.a. Prof. Lev Naumov prägend.

Durch diese teils völlig unterschiedlichen Stile und Auffassungen seiner Lehrer:innen hat Gavrilov wahrscheinlich diese Vielseitigkeit in seinen Interpretationen erlangt.

Der Durchbruch für Gavrilov begann mit dem 1. Preis des weltweit wohl wichtigsten Preises für Klavier, dem Tschaikowski-Wettbewerb 1974.

Gavrilov wurde erst relativ spät zum Wettbewerb angemeldet; es wurde ihm damals nahe gelegt, dass er eigentlich ausschließlich Russische Spätromantik in sein Wettbewerbsprogramm nehmen sollte. Tatsache war aber, dass Gavrilov bis dahin vor Allem Bach, Wiener Klassik, Beethoven und Mozart gespielt hatte.

Also musste Andrei in kurzer Zeit ein Programm mit Schwerpunkt Russische Romantik und Spätromantik erarbeiten.

Nach dem erfolgreichen Abschneiden beim Wettbewerb wurde er plötzlich v.a. als großer Spezialist für die russisch-sowjetische Klaviermusik angesehen — obgleich sein Klassik-Reportoire eigentlich noch immer überwog.

Der Durchbruch im Westen liegt jedoch v.a. in seinem Konzert bei den Salzburger Festspielen im selben Jahr, also 1974.

Der befreundete Sviatoslav Richter erkrankte, und glücklicherweise durfte Andrei Gavrilov ihn vertreten. Nach meiner Kenntnis wurde hier Tschaikowski Klavierkonzert Nr. 1 b-moll aufgeführt.

Sowohl die Technik von Gavrilov war völlig unglaublich im Westen wahrgenommen, zugleich aber auch eine sehr melodische, romantische Ader gepaart mit einem herausragenden Intellekt.

Die Medien haben gelegentlich Vergleiche zu Vladimir Horowitz gezogen, was Gavrilov nicht besonders mochte: Zwar haben beide ein unglaubliches, technisches Können, aber wer sich genauer damit auseinandersetzt merkt, dass der Einsatz und die Resultate, insbesondere dann im Anschlag, oft völlig unterschiedlich sind / waren.

Ich persönlich mag verschiedene Klangwelten – aber auch hier sind Horowitz und Gavrilov eigentlich auch nicht wirklich vergleichbar.

(Dass ich mehr Gavrilov in meinen Playlists habe können Sie sicher leicht erraten 😉 )

 

Was nun folgt ist eine bis dahin beispiellose Karriere.

1976 phänomenal gastiert in der Royal Festival Hall. 1978 folgte eine Konzert-Tournee mit den Berliner Philharmonikern mit 30 Konzerten!

Bis 1980 hat Gavrilov in praktisch allen Zentren der Klassischen Musik gastiert.

1981 sollte nun mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern die Einspielung aller Beethoven Klavierkonzerte erfolgen. Doch zum Ärger des manchmal etwas cholerischen Maestros erschien Gavrilov nicht zur Aufnahme.

Es wird berichtet: (Wahrheitsgehalt schwer zu verifizieren…) Erst Tage später kam eine Nachricht aus dem Kreml, Gavrilov hätte sich entschlossen, seine künstlerische Fähigkeiten in die Dienste seines Heimatlands zu stellen, um dort die Ruhe und die Überlegenheit der Sowjetunion zu genießen.

Die Folge: Hausarrest, Konzerte mit einem Dutzend KGB-Aufpasser, um Andrei komplett abzuschotten.

Auch gibt es einige Anhaltspunkte von Zwangspsychiatrisierung etc., echte Belege habe ich dafür aber noch nicht gefunden.

Gavrilovs Karriere auf internationaler Bühne schien auf jeden Fall abrupt beendet.

Mit den Jahren 1984/1985 begann nicht nur für die Weltgeschichte eine komplett neue Richtung, sondern auch konkret für Andrei Gavrilov durch Michail Gorbatschow: Gavrilov stellte eine Petition bei ihm, um einerseits vom Hausarrest entlassen zu werden, und der Möglichkeit, als erster Künstler einen Pass zu bekommen, mit dem er die Sowjetunion beliebig verlassen und zurückkommen durfte.

Bereits nach kurzer Zeit konnte Gavrilov in London an alte Erfolge, u.a. in der Royal Festival Hall anknüpfen. 1984 und 1985 folgten nicht nur Konzerte in allen bedeutenden Kulturzentren (New York Carnegie Hall, Chicago, Montreal, München, Berlin, Amsterdam, Tokyo uvm.) sondern auch mit fast allen bedeutenden Dirigenten (Abbado, Muti, Ozawa, Svetlanov, Rattle, Mariner uvm.)

Und es gab dennoch auch einige Konzerte in kleineren Häusern, zu der es aber eine große Verbundenheit gab. Eines davon in der Kleinstadt Tübingen 1985, wo ich 13-jährig auf der Empore mich unauffällig auf der Treppe vorgeschoben hatte und später dann einen Brief in gebrochenem Englisch geschrieben hatte — und etwas später von Andrei eine sehr nette Antwort bekommen hatte!

Was jedoch zu diesen unglaublichen Konzerttourneen hinzu kam war eine unvorstellbare Schaffenskraft im Studio.

Zuerst bei EMI alle 4 Chopin Balladen + Sonate Nr.2, Rachmaninov Preludes, Elegie, Etudes, Moment musicaux, Skriabin, Mozart, Bach Französische Suiten. Alle diese Aufnahmen waren Meilensteine an Spieltechnik, Präzision, Intellekt und Emotion. Auch technisch sind erstmalig Qualitäten erreicht worden, die die sich langsam etablierte CD-Technologie erstmalig für Klavieraufnahmen richtig nutzt.

Doch Gavrilov wäre nicht Gavrilov, wenn er nicht nochmals Musik in allen Qualitäten steigern wollte:

Er wechselte zu Deutsche Grammophon. Dort wurden rasch die erfolgreichsten Aufnahmen der EMI-Kollektion (v.a. Chopin Balladen + 2. Sonate, Bach Französische Suiten, Prokoview u.a.) neu eingespielt, wie ich finde nochmals begeisternder.

Aber es kamen aus dieser produktiven Phase viele, weitere, absolut grandiose Aufnahmen hinzu,  z.B. Grieg Lyrische Stücke, Schubert Impromptus, Britten, und mit außergewöhnlicher Sonderstellung die für mich seit der 1982-Aufnahme von Glenn Gould hier die 1993-Aufnahme von Bachs Goldbergvariationen.

(Genauere Details zu den Aufnahmen entnehmen Sie bitte der „Diskografie“)

1994 – 2001 nahm sich Andrei Gavrilov eine Schaffenspause. Man kann viel spekulieren, ob es v.a. gesundheitliche Gründe hatte (es ist gut vorstellbar, dass der mehrjährige Terror des Sowjetregimes durch Hausarrest und andere Repressalien seine Spuren hinterlassen hat).

Es ist aber auch gar nicht so selten, dass Künstler und insbesondere auch Musiker sich und ihr Weltbild neu erfinden wollen – und vielleicht auch müssen.

Im Jahr 2000 hat man Gavrilov mit einer Bach-Produktion der BBC zum Bach-Jahr gelockt. Gavrilov erklärte sich bereit, an einer Video-Produktion teilzunehmen, in der das Wohltemperierte Klavier von 4 Künstlern auf 4 Kontinenten eingespielt werden sollte. Das besondere der Produktion sollte sein, dass als Zielgruppe insbesondere auch Jugendliche und der klassischen Musik weniger Zugewandte angesprochen werden.

Das bedeutete also z.B., dass Gavrilov gut halb-lange Haare hatte, einen übergroßen Ring bei manchen Präludien und Fugen tragen sollte, und dann in kleinen, flotten Mini-Interviews (am besten mit viel Jugendsprache) auftreten sollte. Das wirklich ärgerliche – hat mir Andrei erzählt – war aber, dass dieses „Jugendlich-Cool“-Konzept nach seinen Aufnahmen aufgegeben wurde, und die anderen 3 Pianisten dann ganz gewöhnliche Aufnahmen drehen durften. So tritt er also als etwas durchgeknallter „Hippie“ (ich übertreibe etwas…) auf, während die anderen ganz normal präsentiert werden. Was nach meiner Kenntnis dann das richtig verrückte war: Gavrilov hat vor Veröffentlichung der DVD keine Kenntnis gehabt, dass sich das Konzept grundlegend geändert hat…

Mit einem phänomenalem Paukenschlag ging es 2001 dann wieder richtig los mit unglaublichen Konzerttourneen. Es gibt Aufnahmen bei Youtube vom Comeback-Konzert in Moskau. Es stand u.a. das kaum spielbare 2. Klavier-Konzert von Saint Saens auf dem Programm —- und das 4 Mal an einem Nachmittag / Abend! Dieses Pensum bei der Rückkehr nach 7 Jahren ohne Konzertieren zeigt Gavrilovs Willen und Charakter, die Latte in jeglicher Dimension höher zu legen. Ganz nebenbei ist diese Saint Saens Aufnahme mit Sicherheit eine der 3 besten live-Aufnahmen überhaupt…

2008 folgten wieder USA-Konzerte, 2009 eine extrem erfolgreiche Welttournee, 2010 folgte eine viel beachtete Konzertserie in Wien.

Viele Konzerte folgten. 2013 schrieb Andrei seine Autobiografie. Als Beilage spielte Gavrilov einige Chopin Nocturnes erstmalig ein. 

 

Außerdem war 2013 und 2014 wieder durch große Konzertaktivität gekennzeichnet. Eine Besonderheit bei der Konzertreihe in Bristol war das Selbst-Dirigieren vom Klavier aus.

Bei Bach Klavierkonzerten hatte z.B. Edwin Fischer in den 40er-Jahren diese Tradition begründet. Gavrilov hat damit nochmals ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Konsistenz der Interpretations-Idee des Solisten zeigt wieder neue Facetten, die es anders noch nicht geben konnte.

Diese Tradition jedoch auch auf Romantische Klavierkonzerte zu übertragen macht die Gavrilov-Mentalität mal wieder klar: Die Latte nochmals höher setzen und sehen, was passiert. Und es passierte Großartiges!

Es folgen Konzerte in diesem Format  2017 in Seoul, auch in der Ukraine begeisterte das Dirigieren vom Flügel aus in vielen Konzerten.

Da Gavrilov durch einige Enttäuschungen seitens des Musik-Industrie-Kommerzes Vorbehalte hat, neue Aufnahmen mit einem großen Label einzuspielen hat Gavrilov 2019 ein eigenes Label ins Leben gerufen (das AG UCM = Unzipped Classical Music) (Mehr Infos bei Diskografie) 

Bei UCM sind mittlerweile 3 CDs verlegt, in gewohnt hoher „Gavrilov“-Qualität und auch in audio-technisch höchster Qualität. Geplant sind u.a. Aufnahmen aller 4 Chopin Balladen, weitere Nocturnes und das Bach Wohltemperierte Klavier.

Durch die Corona-Pandemie ist natürlich auch für Gavrilov der Konzertbetrieb zum Erliegen gekommen.

Doch Gavrilov hat v.a. durch letztlich zwei kontinuierliche Projekte die Zeit gut investiert:

1.) Es gibt kaum einen Künstler, der sich so (selbst! Ohne ein paar Marketingbeauftragte im Hintergrund!) substanziell um seine „Community“ und Freunde auf den Social Media Kanälen „kümmert“. Was Andrei uns praktisch täglich an Anregung im Bereich Politik, Philosophie, Kunst und Musik sendet ist unglaublich. Wir sind sicher aus 15-20 Nationen, die Sprachen in den Diskussionen wechseln sehr oft (was aber Dank Übersetzungs-Tools kein allzu großes Problem ist).

2.) Das „Neue“ Projekt, an dem uns Gavrilov seit Monaten schon vor der Veröffentlichung teilhaben lässt:

Die (Neu-) Einspielung des Wohltemperierten Klaviers in 2 Fassungen (Eine deutlich schnellere als alle bisherigen Aufnahmen, die dadurch ganz neue, polyphonische Zusammenhänge eröffnet.

Gavrilov finanziert dieses nun fast 2 Jahre währendes Projekt praktisch komplett selbst mit etwas Unterstützung aus dem Freundeskreis. Wer Gavrilov kennt weiß aber, dass der Maestro sich an keiner Ecke eines solchen Projekts mit Kompromissen zufrieden geben wird.

Geplant ist die Veröffentlichung noch für 2023.

Für 2023 hat Gavrilov einige Konzerte durchgeführt und wird noch in Italien, der Schweiz und Griechenland konzertieren.

 

(Verfasser: Roman Müller)